Krenzer"12 Jahre – 12 Schicksale" im Geschichtsunterricht  

3) Didaktische Hinweise Seite 1 von 14

Moderner Geschichtsunterricht ist problemorientiert. Er versucht, Grundfragen des menschlichen Lebens in ihren historischen Bezügen zu thematisieren. Die exemplarische Auseinandersetzung mit den jeweils zeitgenössischen Antworten auf solche zentralen Fragen soll helfen, Identität zu stiften, und ein Denken in Alternativen fördern. Die angestrebte Hilfe bei der Identitätsfindung ist „nur möglich, wenn es gelingt, dem Schüler Geschichte als ihn existentiell angehend begreifbar zu machen“. Nur wenn der Unterricht Fragen aufgreift, die sich im sozialen Bezugsfeld des Schülers ergeben und ihn somit direkt betreffen, können Lernprozesse eingeleitet werden, die „dem jungen Menschen Fähigkeit und Bereitschaft vermitteln, in Auseinandersetzung mit historischen Problemen ein Gegenwartsverständnis zu gewinnen, das ihm eine mündige Beteiligung“60 am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.
Einleitend wurde bereits auf zentrale Problemfragen hingewiesen, die eine Unterrichtsreihe über den Widerstand der Zeugen Jehovas aufgreifen sollte:
  • Warum leisteten Jehovas Zeugen Widerstand?
  • Wie hätte ich selbst gehandelt?
  • Wann kann, sollte oder muss ich Widerstand leisten?
Über diese Fragen hinaus, bestehen Bezüge zu einigen der im nordrhein-westfälischen Lehrplan Geschichte für die Sekundarstufe II formulierten zehn zentralen „Leitprobleme“, an denen der Geschichtsunterricht ausgerichtet werden sollte:
 
  Leitproblem I – Menschenbild und Weltauffassung
Das von der Aufklärung geprägte Menschenbild der Gegenwart versteht den Menschen als prinzipiell uneingeschränktes und zugleich sozial verantwortliches Individuum. Im Gegensatz dazu steht die nationalsozialistische Ideologie, die das Individuum einer rassistisch definierten Volksgemeinschaft unterordnet. Die Weigerung des einzelnen Zeugen Jehovas, sich innerhalb dieser Volksgemeinschaft „gleichschalten“ zu lassen, führte im Alltag zu Konflikten, die auf das Aufeinanderprallen zweier unterschiedlicher Welt- und Menschenbilder zurückzuführen sind. Die Analyse solcher Konflikte eröffnet den Schülern die Möglichkeit, die Ursachen heutiger Kontroversen aufzudecken.
Vgl. 1935–Wickenkamp, 1940–Kusserow, 1943–Windolph.
 
  Leitproblem II – Herrschaft und politische Ordnungsentwürfe
Der Blick auf historische Herrschaftsformen erweitert den politischen Erfahrungsraum der Lernenden durch Wahrnehmung von Möglichkeiten der Herrschaftsorganisation und –begrenzung, aber auch Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen Praxis der Machtausübung und Zustand einer Gesellschaft. Insbesondere die bewusste Wahrnehmung der willkürlichen Zumutungen, mit der ein totalitä-res Regimes einfache Gläubige zur Anpassung zu zwingen suchte, weckt Wertschätzung für die Existenz eines demokratisch verfassten Gemeinwesens.
Vgl. 1937–Nobis, 1938–Thoenes, 1939–Fey, 1942–Schurstein, 1944–Meyer/Pakull.
 
  Leitproblem III – Freiheitsverständnis und Partizipationsstreben
Freiheitsvorstellungen standen zu allen Zeiten in einem inneren Spannungsverhältnis zur jeweiligen Herrschaftsform. Bis heute zeigen sich Freiheit und Partizipation auf vielen Gebieten als teilweise offene Zukunftsaufgabe. Am Beispiel des Eintretens für das Grundrecht der Religionsfreiheit und durch die Wahrnehmung der unterschiedlichen Antworten Einzelner auf die Frage nach dem Preis, den sie für ihr Engagement zu zahlen bereit waren, können die Schüler ein Bewusstsein für die Komplexität diese Zukunftsaufgabe entwickeln.
Vgl. 1934–Hamann, 1935–Wickenkamp, 1940–Kusserow, 1943–Windolph.
 
  Leitproblem VII – Das Eigene und das Fremde
Individuen, Gruppen und Nationen werden sich ihrer Identität auch durch die Unterscheidung von anderen bewusst. Dabei dient das Andere oder Fremde als Gegenbild zum Eigenen. Jedoch läuft ein kollektives Bewusstsein leicht Gefahr, im Andersartigen das Negative hervorzuheben. Wie im Fall der nationalsozialistischen Diktatur dienen dann Vorurteile oder rassistisches Denken zur Rechtfertigung für Konflikt und Unterwerfung. Am Beispiel der Verfolgung einer religiösen Minderheit können die Mechanismen erarbeitet werden, die von Kollektiven zur Verfolgung eigener Interessen eingesetzt werden. Dies leistet einen wichtigen Beitrag zum Fremdverstehen in der Gegenwart.
Vgl. 1936–Först, 1941–Winkler.
 
  Leitproblem IX – Konflikte, Kriege und Friedensordnungen
Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher nationaler, regionaler, sozialer und religiöser Identität kann zu Problemen führen, die die inneren und äußeren Prozesse einer Gesellschaft und eines Staates beeinflussen. Bei der Betrachtung konkreter Beispiele staatlicher Willkür und Gewalt und standhaften Widerstands ergeben sich zahlreiche in die Zukunft weisende Fragestellungen vom Gedanken zulässigen Widerstands gegen eindeutige Verletzungen von Menschenrechten bis hin zur grundsätzlichen Bedeutung einer innergesellschaftlichen Befriedung.
Vgl. 1936–Först, 1939–Fey, 1940–Kusserow, 1942–Schurstein, 1944–Meyer/Pakull, 1945–Struthoff.
 
  Leitproblem X – Geschehen und dessen mediale Vermittlung
Die ideologiekritische Frage nach den Beziehungen zwischen der historisch-politischen Realität und den zugehörigen Deutungsmustern, zwischen interessenbedingter Auswahl oder Manipulation veröffentlichter Fakten und öffentlichem lässt sich anhand der gegen die Zeugen Jehovas gerichtete NS-Propaganda, aber auch an den zeitgenössischen Veröffentlichungen der Glaubensgemeinschaft untersuchen. Dieser Ansatz thematisiert letztlich die gesellschaftlichen Funktionen und Auswirkungen des öffentlichen Umgangs mit gegenwärtigem Geschehen und der Geschichte.
Vgl. 1936–Först, 1941–Winkler.
 
Nachfolgend wird ein kurzer Überblick über die in der Broschüre „12 Jahre – 12 Schicksale“ präsentierten Biographien gegeben und mögliche Arbeitsfragen zu deren Bearbeitung im Unterricht vorgeschlagen. Diese beziehen sich nicht nur auf die Biographien selbst, sondern insbesondere auch auf die ergänzenden Quellen in Kapitel 4. Über die inhaltliche Arbeit hinaus können die Schüler in methodischer Hinsicht durch die Arbeit an Quellen unterschiedlicher Gattungen ihre Fähigkeiten der Interpretation historischer Zeugnisse vertiefen. Die thematische Ausrichtung bedingt einen Schwerpunkt bei der Verwendung von Erinnerungen der handelnden Personen. Auf die methodischen Besonderheiten, die es bei der Auswertung solcher Zeitzeugenberichte zu beachten gilt, wird an dieser Stelle und auch in den Vorschlägen für Arbeitsaufgaben nicht explizit eingegangen. Im Unterricht sollten sie aber thematisiert werden.
 

60 Uwe Uffelmann: Problemorientierter Geschichtsunterricht. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 3. Aufl., Düsseldorf 1985, S. 253ff.

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