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In Lehrplänen genannte Gemeinschaften

Die meisten Curricula geben kaum Anhaltspunkte, wie das Thema religiöse Minderheiten im Unterricht methodisch umgesetzt werden könnte. Wenn überhaupt Empfehlungen gegeben werden, dann beschränken sie sich auf folgende Hinweise in verschiedener Variation:

  • Gespräch mit (kirchlichen) Sektenbeauftragten
  • Gespräch mit „Aussteigern“ oder Lesen ihrer Erfahrungsberichte
  • Einsatz von Medien (insbesondere Videos) aus der Anti-Kult-Szene
  • Internetrecherche

Diese Methoden sind jedoch kaum geeignet, ein objektives Bild der betroffenen Gemeinschaften zu vermitteln:

 

Bei Sektenbeauftragten der Kirchen, die als „neue Inquisitoren“1 die Sektendiskussion in der Bundesrepublik dominieren, vermutet man zu Recht, daß die „Gefahr besonders groß [ist], daß die Beraterin/der Berater die eigene Sicht der Dinge und die eigene Weltanschauung zum Maßstab der Beratung macht“.2 Wenn „Sektenbeauftragte“ in den Unterricht eingeladen werden, sollte aus Gründen der Fairneß auch ein Vertreter der behandelten Religionsgemeinschaft befragt werden.

 

Auch die Aussagen ehemaliger Mitglieder taugen kaum als Beweis für eine angebliche Gefährlichkeit, denn die Berichte der als „Opfer“ bezeichneten Apostaten können nicht verallgemeinert werden. Ihre oft dramatischen Schilderungen zeugen eher von unbewältigten gruppendynamischen Prozessen und lassen nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf die Gepflogenheiten der betreffenden Gemeinschaft zu. So warnt Werner Gross, Gutachter der Enquete-Kommission, davor, sich z.B. bei der Beurteilung der Zeugen Jehovas nur auf ehemalige Mitglieder zu stützen.3

 

Gegen die Verwendung vieler zum Zweck der Prävention produzierter Medien müssen ebenfalls Bedenken angemeldet werden. Selbst in einer vom Land Nordrhein-Westfalen herausgegebenen für Lehrer bestimmten „Aufklärungs“-Broschüre wird eingestanden: „Achtung: Nicht jeder Film über sog. ‚Sekten‘ ist geeignet! Leider gibt es auch eine ganze Reihe negativer Filmbeispiele, die stark nach den Schemen Täter-Opfer und Gut-Böse aufgebaut sind, anstatt das Phänomen distanziert und differenziert zu untersuchen.“ Kritik sei dringend geboten, „denn leider sind viele Produktionen sehr oberflächlich, wenig differenziert und oft auch überzogen inszeniert“4. Besonders die Vorführung solcher tendenziöser Filme, die insbesondere auf affektive Wirkung setzen, hat in der Vergangenheit gehäuft zu Diskriminierungen und physischen Übergriffen auf Kinder geführt, die religiösen Minderheiten angehören.5

 

Ähnliche Vorbehalte müssen gegen Materialien ins Feld geführt werden, die für Lehrer oder Schüler im Internet bereitgestellt werden. Die grundsätzliche Offenheit des Mediums führt dazu, daß jedermann nach Belieben irgendwelche Informationen einstellen kann. Dabei bleibt häufig unklar, wer der Autor eigentlich ist und welche Interessen er mit der Veröffentlichung verfolgt. Erst recht ist die Verläßlichkeit der angebotenen Informationen im allgemeinen nicht nachprüfbar. Das Internet kann daher als Informationsquelle über religiöse Minderheiten allenfalls ergänzenden Charakter haben. Vor der unreflektierten Verwendung von Unterrichtsmaterialien aus dem Internet muß dagegen eindringlich gewarnt werden.

 

Andere methodische Vorgehensweisen wie „Besuche bei verschiedenen Gemeinschaften“ (Bremen BG) oder die Berücksichtigung der Literatur der besprochenen Gruppen werden nur vereinzelt als Möglichkeit genannt. Formulierungen wie „Arbeit an Werbeprospekten“ (Sachsen-Anhalt Gy ER) legen jedoch nahe, die Selbstdarstellung der Gruppen als unglaubwürdige, positiv gefärbte Eigenwerbung abzutun. Dies nimmt den Betroffenen jede Möglichkeit der adäquaten Entgegnung. Auch die Vorgabe, die Schüler „anhand von Originalliteratur die Vorstellungen und Lehren einer ‚Sekte‘ selbst erarbeiten“ zu lassen, um z.B. „die Problematik des ‚Lebens in der Welt‘ anhand eines konkreten ethischen Konfliktes (z.B. Bluttransfusion) aus der Sicht eines Zeugen Jehovas verstehen und beurteilen [zu] lernen“ (Mecklenburg-Vorpommern Gy ER SekII) dürfte ohne persönlichen Kontakt mit den Gläubigen, allein durch ein akademisch-theoretisches Studium kaum gelingen. Dieses kann einerseits zu einem vorschnellen, vermeintlichen ,In-den-Griff-bekommen‘ fremder Religiosität (die zudem ausgerechnet auf ein „Brandthema“ reduziert wird) verleiten und andererseits nie die ganze Bandbreite der individuellen Glaubens- und Gewissensentscheidungen erfassen, die die Gläubigen treffen mögen.

 

Wer den anderen aufrichtig verstehen will, muß vorurteilsfrei über die Grenzen des eigenen Glaubens hinaustreten können. Schüler, die religiösen Minderheiten angehören, sollten daher nicht als solche ausgegrenzt werden, wie dies heute noch durch Unterricht „über“ eine solche Minderheit geschieht, sondern in einen Unterricht „mit“ den Minderheiten einbezogen werden. Darüber hinaus kann im Sinne der von der modernen Didaktik vielfach eingeforderten „Öffnung der Schule“ auch der Kontakt mit erwachsenen Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaften hergestellt werden. So können z. B. die Eltern der Kinder oder offizielle Repräsentanten in den Unterricht eingeladen werden, um anhand eines zuvor mit den Schülern erarbeiteten Fragenkatalogs ein „Expertengespräch“ zu führen.

 

1

Vgl. Gerhard Besier, Erwin K. Scheuch (Hgg.), Die neuen Inquisitoren. Religionsfreiheit und Glaubensneid, Zürich 1999.

2

Beate Rodrigo, Da ist guter Rat teuer ... – brauchen wir eine eigenständige ‚Sektenberatung’? In: Jugendministerium Nordrhein-Westfalen, S. 70.

3

Zitiert nach: Uta Andresen, P. Lutz, Gottes eifrige Kinder. In: die tageszeitung, taz mag, Nr. 5371, 1./2. November 1997. Um so mehr erstaunt es, daß die Lehrpläne vereinzelt sogar die Ganzlektüre von Apostatenberichten empfehlen, was allerdings angesichts des geringen Stundenumfangs, der für die Thematik vorgesehen ist, kaum realisierbar erscheint (vgl. Saarland RS ER).

4

Jugendministerium Nordrhein-Westfalen, S. 93, 197.

5

Vgl. die Dokumentation diskriminierender Vorfälle in deutschen Schulen auf dieser Website.

 

 

   

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   "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"
   ist der Titel eines Liedes von Franz Josef Degenhardt (© 1965).

   © 2005 by Michael Krenzer